Als technischer Assistent von Professor Étienne Jules Marey (1830-1904) arbeitete er als erstes mit Schwingflügelapparaten und baute 1874 [1] einen künstlichen Vogel mit Flügelschlagmechanismus.
Dieses Gerät wurde wie bei den Baumustern von Pénaud mit einem Gummimotor angetrieben. Tatin stellte fest, dass die Leistung dieses Antriebes weitaus größer war als benötigt wurde.
Zugleich bemängelte er aber auch, dass aufgrund der ungleichen Dehnung und Abnutzung des Gummis, eine konkrete Messung der Antriebskraft nicht vorgenommen werden konnte. Er baute in der folgenden Zeit eine große Anzahl von Flugobjekten und verbesserte oder baute diese laufend um.
So baute er 1875/76 auch einen weiteren künstlichen Vogel zusammen mit Prof. Marey. Dieser führte in dieser Zeit umfangreiche Forschungen über den Vogelflug durch und nutzte dazu verstärkt das Medium Fotografie für seine Betrachtungen und Untersuchungen. Er trug auf diese Weise interessante Daten über den Flug eines Vogels, speziell auch über die Bewegungen der Flügel während des Fluges zusammen[2]. Letztendlich flossen alle seine gemachten Erfahrungen, Erkenntnisse und all sein bis dahin investiertes Geld in ein Projekt das sehr bemerkenswert ist.
Abgesehen davon, dass einige Experimentatoren mit Modellen arbeiteten, welche mit Gummi angetrieben wurden, haben alle anderen oder die meisten Entwickler versucht die effizientere Dampfmaschine, welche schon sehr klein und leicht gebaut werden konnte, für ihre Flugexperimente zu nutzen.
Nicht Tatin, er benutzte 1879 für den Antrieb Druckluft. Und das ist das einzigartige an diesem Fluggerät. Das Modell in nachfolgender Abbildung war in seinen Abmaßen im Vergleich zu Moy’s Fluggerät relativ klein. Seine Spannweite betrug 1,90 m und die maximale Flächentiefe maß 40 cm, sodass die Tragflügelfläche von nur 0,70 m² zugrunde gelegt werden kann. Die Tragfläche war in zwei gleiche Hälften geteilt, die beidseitig an einen Metallzylinder mit konisch abschließenden Enden montiert waren. Die Flächen selbst waren mit Industrieseide bespannt.
Der als Rumpf dienende Zylinder war gleichzeitig der Behälter für die Druckluft und konnte maximal bis zu 20 Atmosphären Druck aushalten. Der normale Betrieb lief aber nur mit 7 Atmosphären. Die Länge des Druckbehälters betrug 85 cm und der Durchmesser knapp 12 cm. Sein Gewicht betrug nur 700 Gramm und sein Fassungsvermögen war dementsprechend klein und konnte für nur wenige Minuten die Energie für den kleinen Antriebsmotor liefern, der auf dem vorderen Teil der Röhre, in Höhe der Tragflächen, montiert war.
[1] Jahreszahl ; Angaben nach Musée de l`Àir,
[2] O. Chanute, „Progress in Flying Machines“, Wings and Parachutes, Part IV, February 1892
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Dieser kleine Motor besaß oszillierende Zylinder, die die zugeführte Druckluft in Kraft umwandelten. Verbunden mit jeweils einer Welle und je einem „Getriebe“ wurden zwei 4-Blatt-Propeller mit einem Durchmesser von 40 cm angetrieben, welche entgegengesetzt mit 25 Umdrehungen pro Sekunde drehten und an der Vorderkante der Flügel angebracht waren. Das Heckflügel-Dreieck wurde auf den hinteren Teil der Röhre montiert und war leicht nach oben geschwungen um die Längsstabilität , ähnlich dem Prinzip bei den fortgeschrittenen Pénaud- Projekten, sicher zu stellen.
Wie auch bei den vielen Drachen-Motorfluggeräten der anderen Flugpioniere hatte Tatin die Flügelfläche ebenfalls in einem leichten Anstellwinkel gegen die Luftströmung an den Rumpf gesetzt. Das Modell wurde mit einem leichten 4-Rad-Gestell versehen, später reichten aber nur drei Räder zum sicheren Starten und Landen. Das Gesamtgewicht betrug 1,75 kg.
Nach mehreren Tests und Änderungen am Fluggerät wurde dieses in eine militärische Einrichtung in der Nähe von Chalais-Meudon gebracht, wo es auf eine Art Rondell aus Holzplatten mit einem Durchmesser von 14 m im Fesselflug erprobt werden sollte.
Auf seine Räder gestellt wurde es am vorderen und hinteren Teil des Rumpfes mit einer Leine versehen deren beide Enden zum Mittelpunkt des Rondells geführt und dort befestigt wurden damit der Flugkörper eine gute Führung währen des eventuell durchgeführten Fluges erhält. Tatin beschreibt seine Experimente sehr ausführlich.[1] Unter anderem berichtet er auch, dass das Flugzeug bei ca. 29 km/h abhebt und seine Runde dreht. Die Landung war aber jedes Mal sehr hart, sodass das Fahrwerk jedes Mal in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auch die Propeller, welche einen doch sehr großen Durchmesser hatten und die Bodenfreiheit unter dem Propellerkreis nicht immer ausreichte, wurden dabei mehrmals beschädigt. Tatin konnte aber alles wieder reparieren.
Ein weiteres Experiment wurde vorbereitet. Tatin ließ zwei ca. 80 Meter lange Telegraphen-Drähte straff spannen, entsprechend der Spurbreite des Fahrgestells, und setzte das Flugzeug mit speziell gefertigten Rädern (gerillt) darauf. Wieder hob das Flugzeug wie erwartet bei entsprechender Geschwindigkeit ab, dabei berührte aber ein Propeller den Telegraphen-Draht. Propeller und Fahrwerk waren wieder zerstört, dies war für Tatin im Moment aber nicht von Belang. Am Wichtigsten war, dass das Flugzeug sich selbstständig in die Luft erheben konnte und das ist hier in beiden Experimenten erfolgreich geschehen. Mit Recht kann in diesem Fall sogar behauptet werden, dass es zum ersten Mal gelungen ist ein Flugzeug aus eigener Kraft starten zu lassen. Mit diesem Ergebnis konnte Tatin durchaus zufrieden sein. Im Hinblick auf die Fortführung seiner Versuche baute Tatin ein völlig neues Fahrwerk und neue stabilere Propeller.
Das Fahrwerk hatte jetzt nur noch drei Räder und obwohl diese etwas größer dimensioniert waren hielt sich das Gesamtgewicht noch unter dem des alten Fahrwerks. Die Propeller wurden verstärkt und nahmen somit an Gewicht zu. Die Flügelblätter bestanden aus dünnem Blatthorn und wurden heiß in die richtige Form gezogen.
Leider war Tatin nicht in der Lage mit seinem reparierten Flugzeug weitere ausführliche Experimente durchzuführen; wie zum Beispiel das Studium des Flugverhaltens bei unterschiedlichen Anstellwinkeln der Flächen, der Durchmesser der Propeller und dessen Wirkungsgrad, die Geschwindigkeit der Kraftübertragung auf die Propeller damit diese besser genutzt werden kann und nicht zuletzt die Verbesserung des Motors in Bezug auf sein Leistungsgewicht. Trotzdem brachten seine Versuche eine Menge Erkenntnisse und Ergebnisse, die Tatin veranlassten theoretische Rückschlüsse zu ziehen.
Er schrieb in seinem Bericht: „…These figures are not absolutely exact, but sufficiently so to serve as a guide to others who may wish to engage in similar work. …. These experiments seem to demonstrate that there is no impossibility in the construction of large apparatus for aviation…” (Diese Zahlen sind nicht ganz genau, reichen aber aus, um anderen, die ähnliche Arbeiten durchführen möchten, als Leitfaden zu dienen. …. Diese Experimente scheinen zu zeigen, dass der Bau großer Flugzeuge kein Ding der Unmöglichkeit ist …)
Tatin erkannte, dass weitere praktische Versuche sehr teuer werden würden und so musste er auf die Verpflichtung verzichten den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Er schrieb weiter: „….and I shall be satisfied if my own labors shall induce others to take up such an enterprise.”[1] (... und ich werde zufrieden sein, wenn meine eigene Arbeit andere dazu bewegt, ein solches Unternehmen zu gründen.)
Damit war Tatin’s Arbeit aber nicht beendet. 1890 entwarf er zusammen mit Charles Robert Richet, dem späteren Professor an der Sorbonne Universität von Paris (1887 bis 1927), ein Eindecker-Flugzeug, das mit einer Dampfmaschine angetrieben werden sollte. Richet war ein Multitalent und arbeitete fast zur gleichen Zeit wie Tatin in der Forschungseinrichtung von Professor Marey.
Er war es auch, der einige Jahre später den berühmten Louis Charles Bréguet (1880-1955) ermutigte und ihn finanziell bei dem Bau seines ersten Hubschraubers „Giroplane Bréguet-Richet“ unterstützte.
Victor Tatin’s Tätigkeit zeichnet sich auch durch den einzigartigen Umstand aus, das seine Experimente bis in die Vorkriegszeit Einfluss auf die Entwicklung einiger erfolgreicher Flugzeugtypen nahm, so auch auf den Bau des für die damalige Zeit sehr schnittigen und modernen Tatin-Paulhan „Aero-Torpedo“ – Flugzeugs von 1911.
[1] Entnommen aus: O. Chanute, „Progress in Flying Machines“, Aeroplanes, Part VII,
O. Chanute, Aeroplanes, Part VII, December 1892
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